Verfahren  

Bowstreet Nr. 16

Sechs Uhr schlug Big Ben auf dem nahen Turme des Parlamentsgebäudes von Westminster, als ich aus der Droschke stieg, die mich von Charing Croß nach dem Hotel Cecil gebracht hatte. Am Bahnhof war niemand gewesen, obwohl ich von Brüssel aus die Stunde meiner Ankunft telegraphiert hatte.

Zum erstenmal begegnet ist mir Bowstreet in einem Essay Macaulays, ich entsinne mich noch gut der mit wenigen Strichen meisterhaft hingeworfenen Szene, die sich, wie so viele Stellen in den Werken dieses Historikers, dem Gedächtnis unvergeßlich einprägte. Später nahm dann die Bowstreet ihren Platz ein neben dem Tower, neben Newgate und der Old Bailey – Namen, die einen besonderen Klang haben in der englischen Rechtsgeschichte. Sie ergreifen und beschäftigen die Phantasie in ganz eigener Weise, diese altersgrauen Stätten, umwittert von einem trüben Dunst menschlicher Schuld und menschlichen Elends.

In einem kahlen, schlecht beleuchteten, mit üblen Gerüchen angefüllten Raum wartete eine Menge Vagabunden, Spitzbuben und Säufer, bis der diensttuende Beamte die Eintragung in das dicke Buch beendet hatte; von Zeit zu Zeit, wenn ein kleines Bündel von Delinquenten beisammen war, nahm sie ein dunkeluniformierter Charon in Empfang und geleitete sie über den Styx in die Unterwelt, wo sich mit dumpfem Krachen schwere eiserne Türen hinter ihnen schlossen. Es ging nicht ohne Heulen und Zähneknirschen ab. Indessen war das Verhalten der Beamten durchaus sachlich, ohne jede Schärfe. Wurde Zwang erforderlich, so blieb er so sanft wie möglich. Ich beobachtete alles mit lebhaftem Interesse.

Endlich kam auch ich an die Reihe. Meine Personalien wurden festgestellt, Mr. Smith schüttelte mir die Hand und übergab mich einem Aufseher, der mich in eine Zelle führte und einschloß. Jetzt hatte ich Zeit, über meine Lage nachzudenken.

Den größten Teil der Nacht hindurch wandelte ich in dem beschränkten Raum auf und ab; wenn die Ermüdung überhandnahm, setzte ich mich auf die Holzpritsche, die das ganze Mobiliar bildete. Mein Grübeln wurde immer wieder unterbrochen durch die Einlieferung neuer Häftlinge. Nur wenige ergaben sich ohne Klage in ihr Schicksal. Meist war es nichtiges Geschwätz, mit dem sie den Aufseher noch eine Weile festzuhalten suchten, ehe die Einsamkeit sie verschlang. War kein Dialog mehr möglich, so ergingen sie sich noch eine Zeitlang in allmählich absterbenden Monologen. Dann wurde es wieder grabesstill.

Wie war ich in diese Gesellschaft geraten? Meine anfängliche Überzeugung, daß ein Irrtum vorliege, machte, je weiter die Nacht fortschritt, einer bösen Ahnung Platz, die zwar noch ganz unbestimmt blieb, aber darum nicht weniger quälte. Irgend etwas mußte doch geschehen sein. Unangenehm im höchsten Grade war es schon, daß ich genötigt sein würde, meine Reise nach Baden-Baden einzugestehen, die ich vor meiner Frau zu verheimlichen wünschte. Ich hatte ihr gesagt, daß mich Geschäfte nach dem Kontinent riefen. Und ich hatte sie gebeten, dies vor jedermann geheimzuhalten. Das war ihr weiter nicht befremdlich vorgekommen, da meine Tätigkeit im Orient sie an derartiges gewöhnt hatte. Nur nach Baden-Baden sollte sie von meiner Reise Nachricht geben. Eine Ausnahme, der ein ganz bestimmtes Motiv zugrunde lag.

Woher wußte die Karlsruher Staatsanwaltschaft meine Londoner Adresse? Sie konnte dieselbe nur von meiner Schwiegermutter erfahren haben. Oder von meiner Schwägerin Olga.

Was mochte man mir zur Last legen? Es mußte etwas Schweres sein, sonst wäre die Verhaftung nicht telegraphisch angeordnet worden. Sollte es die Täuschung mit dem Pariser Telegramm sein, die man inzwischen vielleicht entdeckt hatte? Aber das war ja überhaupt nicht strafbar. Ebensowenig wie die Vermummung, in der ich mich nach Baden-Baden begeben hatte. Nein, es mußte etwas anderes sein. Etwas Wichtiges. Aber was?

Eine Begebenheit, die sich vor einigen Monaten zugetragen hatte, kam mir plötzlich in den Sinn. Während ich in Konstantinopel die Verhandlungen mit der türkischen Regierung führte, hatte ich eines Tages die Wahrnehmung gemacht, daß ich auf Schritt und Tritt von Spitzeln überwacht wurde. Aus dem Chef der geheimen politischen Polizei, Fahim-Pascha, den ich deswegen zur Rede stellte, war nichts herauszubringen. Ich vermutete, daß er die Komödie inszeniert habe, um Bakschisch zu erpressen. Als die Belästigung immer ärger wurde, ging ich mit dem amerikanischen Botschafter nach Jildis und beschwerte mich. Das half. Später erfuhr ich aus zuverlässiger Quelle, daß ich in einem Briefe denunziert worden war als Agent der Jungtürken und daß dieser Brief den Poststempel Baden-Baden getragen hatte.

Denkbar also, daß in Baden-Baden ein Feind saß. Denkbar, daß der jetzt ein zweites Mal versuchte, mir einen Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Vielleicht hatte er bei der Staatsanwaltschaft eine lügnerische Anzeige gemacht. Nun, das würde sich ja rasch aufklären.